Histoire
Der Titel unserer Ausstellung nimmt mit dem Begriff «Manifest» ein grosses und vielgenutztes Wort in den Mund. Ein Manifest hält in der Regel ein Programm fest, das alles Vorausgehende verwirft oder eine ethische Richtschnur vorgibt, denken wir etwa an Manifeste der künstlerischen Avantgarde wie das «dadaistische Manifest» von 1916. Die Aussagen der textilen Werke in unserer Ausstellung sind weniger offensichtlich und nicht explizit formuliert. Sie wollen vom Publikum erkundet werden. In Ulrike Kessls «Nylons in Space» werden zum Beispiel Strumpfhosen zu Netzen verbunden und tasten sich frei im Raum voran. Sie arbeitet nach dem manifesten Leitsatz: «Ich versuche, durch skulpturale Prozesse eine veränderte Sichtweise auf die alltägliche Umgebung zu erzeugen und Fragen zu stellen.» Sie lädt uns also ein, durch ihre Arbeit die bestehende Architektur neu zu sehen. Wir haben zu den rund 60 Künstler:innen in der Ausstellung solche Leitgedanken gesucht, die ihre Werke begleiten und die Betrachtenden zu einer intensiven Auseinandersetzung einladen. Die Worte verweben sich mit den Exponaten und den kurzen biografischen Angaben zu lebendigen Manifesten und sprechen uns an, wenn wir uns auf sie einlassen.
Als Kuratorin der Kunstgewerbesammlung ist es meine Aufgabe, aus dem Sammlungsbestand Ausstellungen zu gestalten, die spezifische Themen hervorheben. Die Mittelachse der Ausstellung lädt zu einer chronologischen Reise durch die Geschichte der Textilkunst ein, vom Bauhaus bis heute. Hierbei spielen historische Kontexte eine zentrale Rolle. Die individuellen Lebensgeschichten und künstlerischen Ausrichtungen der Gestalter:innen prägen die Ausstellung. Die Kapitel in den Seitengängen sind nach Querverbindungen geordnet. So folgt etwa der Bereich Social Fabric dem künstlerischen Blick auf textile Bildträger im sozialen Geflecht und als Vermittler gesellschaftlicher Appelle, während Stay Fluid mit Künstler:innen wie Marie Schumann und Constanza Camila Kramer Garfias die formalen Normen hinterfragen. Im Bereich Schwarmweben wird die kollektive Webkunst der ehemaligen Textilklasse der ZHdK zum Manifest.
Das Museum für Gestaltung Zürich hat eine lange Tradition im Bereich der textilen Künste. Die Textilklassen an der Vorläuferinstitution der ZHdK haben massgeblich dazu beigetragen, dass die Sammlung des Museums heute sehr reich an textilen Objekten ist. Die Textilkunst – das künstlerische Schaffen über den Gebrauch hinaus – spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Seit den 1960er Jahren hat diese Kunstform international an Bedeutung gewonnen. Das Museum begann direkt aus wichtigen Ausstellungen, wie den Textilbiennalen in Lausanne oder auch aus museumseigenen Ausstellungen, Werke zu erwerben, wie etwa Arbeiten von Sheila Hicks aus der massgeblichen Ausstellung Gewebte Formen von 1964.
Die Liebe zum Textil hat sich über meine Grossmutter und meine Mutter auf mich übertragen. Als Kind war ich fasziniert von den handbestickten Kissen und den fein gestrickten Decken in ihren Haushalten. Sie begeisterten mich durch ihre Schönheit und die Geschichten, die sie erzählten. Ich bewunderte, wie Stoffe und Fäden unter den Händen meiner Mutter ihre Form wechseln konnten und der Wunsch zur Nachahmung war rasch geweckt. Eine eigene Nähmaschine entfachte meine Schaffenslust, wie auch Ausstellungen – etwa im Museum Bellerive – deren textile Welten das Handwerk zelebrierten. Letztlich würde ich meine Liebe zum Textil doch fast schon als genetisch bezeichnen.
Die Dreiergruppe beim Eingang der Ausstellung gefällt mir besonders gut. In den textilen Porträts stellen verschiedene Künstlerinnen in unterschiedlichen Techniken und Ansätzen je eine Person dar: «Wandbehang 2» von Doris Stauffer-Klötzer aus dem Jahr 1957 zeigt eine Frauenfigur, die aus geometrischen Formen besteht und die Idee eines «Stehaufchens» symbolisiert – einer Person, die sich trotz Widrigkeiten immer wieder aufrichtet, sehr direkt in der Ausführung, was das Manifesthafte unterstreicht. Das Werk spiegelt den kämpferischen Charakter der Künstlerin wider. Rund zehn Jahre später schuf die polnische Grafikdesignerin und Künstlerin Teresa Byszewska mit «Dame Rouge» das Bild einer Frau, die eine ambivalente Mischung aus Lebensfreude und Leiden ausdrückt. Die verwendeten Stoffe haben bereits selbst eine Geschichte, was dem Werk eine besondere Tiefe verleiht. Ich finde dieses Porträt wirklich reizend und beobachte gerne, wie unsere Besucher:innen es genaustens betrachten. Lissy Funks abstraktes Porträt ihres Ehemanns trägt dessen Kurznamen «Dölf». In aufwendigen Sticktechniken und kräftigen Farben manifestiert es die emotionale Verbundenheit des Paares. Jedes dieser Werke bringt auf einzigartige Weise das Leben und die Persönlichkeit der abgebildeten Menschen zum Ausdruck, was mich besonders berührt.
Das Eintauchen in immer neue thematische Welten und das Entdecken von Facetten, die sich mit jeder Vertiefung zeigen, fasziniert mich. Besonders spannend finde ich es, Objekte im Zeitkontext zu studieren, sie neu zu kontextualisieren und ihre Veränderung über die Jahre zu erfassen. Auch der Kontakt zu den beteiligten Künstler:innen oder deren Nachfahr:innen ist eine grosse Bereicherung. Es begeistert mich, über Jahre hinweg einzelne Positionen zu verfolgen und manchmal Werke für die Sammlung zu gewinnen. Natürlich ist es mir auch eine grosse Freude, den Besucher:innen die Werke zugänglich zu machen und sie dazu einzuladen, diese zu entdecken. Die Werke, die normalerweise sicher in unseren Depots verwahrt sind, um ihre Schönheit zu bewahren, werden ans Licht geholt. Ihre optische Wirkung zeigt sich erst bei der physischen Montage. Nun können sie als Exponate miteinander in Dialog treten. Der Aufbau einer Ausstellung ist jedes Mal eine magische Phase.
Die Ausstellung Textile Manifeste – Von Bauhaus bis Soft Sculpture läuft bis am 13. Juli 2025 im Museum für Gestaltung Zürich, Ausstellungsstrasse 60.